Schmerzschwelle/Schmerzempfinden
Jeder Mensch hat eine individuelle Schmerzschwelle, d. h. wie stark muss ein Reiz bzw. eine Noxe sein, damit sie im Gehirn das gewisse „Aua“ auslöst. Dies lässt sich klassischerweise an der Herdplatte bestimmen, d. h. bei welcher Temperatur ziehe ich meine Hand weg.
Die Schmerzschwelle wird von vielen Faktoren bestimmt. Einerseits von der Genetik. Diese legt die Zahl der Schmerzrezeptoren fest und wie ein Signal zum Gehirn geleitet wird. Viele Schmerzrezeptoren und schnelle Durchleitung erzeugen eine niedrige Schmerzschwelle. Aber natürlich gibt es auch die Möglichkeit die Schmerzschwelle durch Aktivierung von so genannten „Blockierungssysteme“ zu erhöhen. Der Mensch ist für ein Überleben in der Natur konstruiert und dort kann es von Nachteil sein, sich auf den Schmerz zu konzentrieren, da die Aufmerksamkeit auf andere Gefahren dadurch gesenkt wird. Deshalb schaltet das Gehirn in Gefahrensituationen und unter Stress den Schmerz ab (wir fühlen ihn später um so stärker). Dies haben sicherlich einige schon erfahren, z.B. nach einem Unfall, wenn wir im Schock sind, da tun uns Prellungen und Wunden weniger weh. Wenn wir dann Zuhause zur Ruhe kommen, bekommt der Schmerz unsere Aufmerksamkeit. Der Körper will uns sagen: jetzt hast du Zeit dich, um deine Wunden zu kümmern.
Im Gegensatz zum akuten Schmerz sind beim chronischen Schmerz nicht nur der Körper, sondern auch die Psyche und das soziale Umfeld betroffen. Oft ist das Selbstwertgefühl der beeinträchtigt und viele sind durch einen frustranen Krankheits- und Behandlungsverlauf und die erlebte Zurückweisung im Gesundheitssystem depressiv und misstrauisch geworden. Neben dem persönlichen Leid der Kranken ist meistens auch das persönliche Umfeld, insbesondere die Partnerschaft und Familie in Mitleidenschaft gezogen. Im Verlauf der Chronifizierung von Schmerzen entwickelt sich eine eigenständige Schmerzkrankheit, die sich von ihrer Ursache abkoppelt hat. Dabei hat der Schmerz seine Leit- und Warnfunktion verloren und einen selbständigen Krankheitswert erlangt hat. In diesen Fällen führt das Schmerzleiden zu psychopathologischen Veränderungen. Der Patient erhebt den Schmerz zum Mittelpunkt seines Denkens und Verhaltens. Dadurch wird er seinem sozialen Umfeld entfremdet.
Akuter Schmerz wird durch äußere (z.B. Verletzung) oder innere Prozesse (z.B. Entzündung, Tumor, Verspannung, Bandscheibenvorfall) ausgelöst. Er ist zeitlich begrenzt, örtlich umschrieben und wird oft von vegetativen Reaktionen begleitet (z.B. Puls und Blutdruckanstieg, Muskelanspannung). Er hat eine Warn- und Rehabilitationsfunktion. Chronischer Schmerz ist von langer Dauer und oft weniger scharf umschrieben.
Äußere und innere Schmerzreize werden von Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) in Haut, Muskeln, Gelenken und inneren Organen aufgenommen. Der Organismus verfügt über ein körpereigenes Schmerzsystem, das individuell und situationsabhängig mehr oder weniger stark aktiv ist. Erst bei ausreichender Erregung bzw. bei verminderter Hemmung werden die Schmerzimpulse zum Gehirn weitergeleitet. Bei starken fortdauernden Schmerzen verändern die schmerzverarbeitenden Nervenzellen in Peripherie, Rückenmark und Gehirn ihre Struktur und damit ihre Funktion. So führt ein anhaltender Schmerzreiz durch wiederholte Reizübertragung der schmerzleitenden Nervenbahnen und Freisetzung der Neurotransmitter (Überträgerstoffe) an den Synapsen (d. h. Schnittstellen) der Neuronen zu einer Erhöhung der Übertragungsstärke (Bahnung) mit der Folge, dass die Nervenzellen nun überempfindlich auf Reize reagieren. Dieser Lernvorgang entspricht einem "Schmerzgedächtnis". Geringste Reize lösen jetzt Schmerzen aus und Nervenzellen können sogar spontan feuern, selbst wenn die primäre Schmerzursache beseitigt worden ist. Auf diese Weise kommt es zu einer Chronifizierung.
Mit bildgebenden Verfahren konnte gezeigt werden, dass chronische Schmerzen die Repräsentation des betroffenen Körperteils in der Hirnrinde verändern. Diese Veränderungen sind reversibel und hängen z.B. von der Schmerzaufmerksamkeit ab. Neuere Untersuchungen zeigen einen komplexen Zusammenhang zwischen neuronalen, endokrinologischen und immunologischen Systemen sowie eine enge Verbindung zwischen Schmerz- und Stressverarbeitung. Das Empfinden von Schmerz entsteht in einem Gebiet des Gehirns, das auch Sitz der Gefühle ist. Körperschmerz und Seelenschmerz sind daher eng miteinander verwoben. Negative Affekte und Schmerz können bei der chronischen Schmerzkrankheit nicht mehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Negative Affekte werden oft als Schmerz wahrgenommen.
So geht es in der Psychotherapie darum die Schmerzwahrnehmung zu verändern und zwischen Schmerz und Gefühlen wieder zu unterscheiden. Ein über Jahre quälender Schmerz kann zu Depressivität, Vereinsamung, sozialem Rückzug, Aggressivität, Auftauchen von Sinnfragen, Suizidgedanken, Familienkonflikten und Problemen am Arbeitsplatz führen. Der Alltag wird um den Schmerz herum organisiert und der Schmerz bestimmt oft das Familienleben.
Die Schmerzen führen zu körperlicher Schonung, Absinken der Leistungsfähigkeit und Passivität. Dies bewirkt eine ängstlich-depressive Verstimmung und vermehrten Stress, was zu einer Verminderung der Schmerzschwelle führt.
Deshalb muss die Schmerzursache immer aktiv behandelt werden. Wenn bestimmte Maßnahmen innerhalb eines Zeitrahmens nicht helfen, dann müssen andere Maßnahmen ergriffen werden.